„Erleben, erinnern, erfahren…“

Anfang November ist das Jugendzentrum mit Schülern der Jahrgangsstufen 9 und 10 der Hanseschule im Rahmen des Projekts „Erleben, erinnern, erfahren…“ nun zum zweiten Mal nach Ysselsteyn gefahren. Gut 20 Kilometer von der deutschen Grenze bei Krefeld entfernt, befindet sich dort, in der niederländischen Provinz Limburg, eine deutsche Kriegsgräberstätte. Der Friedhof ist nicht nur die größte Kriegsgräberstätte der Niederlande, sondern flächenmäßig mit 28 Hektar auch die größte deutsche Kriegsgräberstätte überhaupt. 31.704 Kriegstote, vornehmlich aus dem Zweiten Weltkrieg, fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Begraben sind hier nicht ausschließlich Deutsche, sondern auch Menschen anderer Nationalität, die mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet haben.

Zu Beginn des Programms wurden die Schülerinnen und Schüler in fünf Kleingruppen aufgeteilt. Jede Gruppe erhielt einen Karton mit Bildern, Briefen, Ausweisen, Stammbaum uvm. einer bestimmten Person, die auf dem Friedhof begraben liegt. Aus diesen Puzzleteilen erarbeiteten die Jugendlichen dann die Lebensgeschichte dieser Person und hielten diese auf einem großen Plakat fest. Nun folgte eine Führung über den Friedhof. Das Gräberfeld erschüttert bereits durch seine schiere Größe und Zehntausende von Kreuzen. Das Unheil, welches Kriege über Menschen bringen, wird mit Nachdruck vor Augen führt. Nach einer allgemeinen Einführung und Erläuterung suchte unser pädagogischer Begleiter Jan dann nacheinander die fünf Stellen auf, wo die Personen begraben liegen, über welche die Jugendlichen geforscht hatten. An den jeweiligen Gräbern stellten die Schülerinnen und Schüler dann ihr Plakat vor und erzählten von diesen Menschen, unter denen sowohl Personen waren, die sich verbrecherische Taten haben zuschulden kommen lassen, als auch ein 16-jähriger Jugendlicher, der in den letzten Tagen des Krieges noch vom NS-Staat zum Dienst in der Wehrmacht verpflichtet wurde und dann noch ums Leben kam. Der jüngste Tote auf dem Gräberfeld wurde noch nicht einmal einen Tag alt: dass er einen deutschen Vater hatte, wurde dem neugeborenen und an einer Lungenentzündung erkrankten Josef Meijer zum Verhängnis – ein Arzt lehnte deshalb ab, ihn zu behandeln. Anschaulicher kann kaum dargestellt werden, welchen Hass und welche Tragödien Kriege über Menschen bringen.

Die verbleibenden Stunden des ersten Tages widmeten wir dem Thema „Propaganda“: Nach dem Abendessen wurde der Gruppe durch einen Kurzvortrag nahegebracht, wie in Nordkorea Propaganda organisiert wird und welche Wirkung sie auf die Menschen hat. Mit einer Diskussionsrunde endete der erste Tag.

Am nächsten Tag stand dann ein Vortrag und eine Gesprächsrunde mit einem niederländischen Zeitzeugen auf dem Programm. Lodewijk, ein inzwischen 79 Jahre alter Mann, wurde 1942 als Kind jüdischer Eltern in Amsterdam geboren. Als die deutschen Besatzungstruppen alle jüdischen Bewohner für den Transport in den sicheren Tod sammelten, wurde er als Kleinkind 1943 von seiner Mutter und den zwei- und vierjährigen Schwestern getrennt. Bevor seine Mutter und seine Schwestern in das Konzentrationslager Sobibor in Polen transportiert und dort umgebracht wurden, gab ihn die Mutter einem 14-jährigen Mädchen, das sie kannte auf den Arm. Dieses Mädchen nahm ihn mit nach Hause, musste ihn aber nach einer Woche wieder in das als Sammelstelle genutzte Gebäude, vor dem er gerade abgegeben und vermeintlich gerettet worden war, zurückbringen, weil Eltern des Mädchens das Kind nicht mehr wollten. Eine Zeit später wurde er vom Innenhof des Gebäudes über eine große Hecke Widerstandskämpfern in die Arme gegeben, die vom dort befindlichen schlecht einsehbaren Schulhof immer wieder Kleinkinder in Körben und Taschen wegtrugen und ihnen somit das Leben retteten.

Abgegeben wurde der kleine Lodewijk dann bei einem Mann, der als Zahnarzt und Bierbrauer arbeitete. Deutsche Soldaten gingen auf dem Hof ein und aus, um sich wegen Zahnschmerzen behandeln zu lassen oder um Bier für den Feierabend zu kaufen. Er selbst lebte auf dem Dachboden einer Scheune, der eigentlich zum Lagern von Obst genutzt wurde. Das Anwesen befand sich nur 700 Meter vom Gelände des KZ Herzogenbusch im Ort Vught entfernt. Lodewijk erzählte, wie er, obwohl er während der Kriegszeit noch so klein gewesen ist, beinahe sein ganzes Leben unter den damaligen Erlebnissen gelitten hat. Lange Zeit war er in Behandlung und noch heute kann er seinen Kindern nichts über ihre Großeltern erzählen. Drei unterschiedliche Daten wurden ihm später von Erwachsenen als mögliches Datum seiner Geburt erzählt, Königin Juliana bestimmte Mitte der 1950-er Jahre den 10.01.1942 zu seinem Geburtstag. In seinen Worten war weder ein Wort der Anklage noch Verbitterung gegenüber Deutschland zu spüren. Als junger Erwachsener zog Lodewijk dann auch für ein Jahrzehnt ins saarländische Homburg, weil er dort Arbeit bekam. Seit vielen Jahren wohnt er nun wieder in den Niederlanden, hat Frau und Kinder und berichtet Jugendlichen von seiner Kindheit. „Geht fair miteinander um und streitet euch nicht. Das führt zu Krieg“, gab er unserer Gruppe mit auf den Weg.

Die Fahrt war der Abschluss des Projekts „Erleben, erinnern, erfahren…“, welches von Dirk Dupont, dem Schulsozialarbeiter der Hanseschule und dem Attendorner Tom Kleine von „Jüdisch in Attendorn“ nach Kräften unterstützt wurde. Wir bedanken uns sehr für die hervorragende Zusammenarbeit!