Erleben, erinnern, erfahren…


Anlässlich des 100. Jahrestags des Endes des 1. Weltkriegs am 11.11. und des 80. Jahrestags der Reichsprogromnacht vom 9. auf den 10. November ist das Jugendzentrum mit Schülern der Jahrgangsstufe 9 der Hanseschule im Rahmen des Projekts „Erleben, erinnern, erfahren…“ nach Ysselsteyn gefahren. Gut 20 Kilometer von der deutschen Grenze bei Krefeld entfernt, befindet sich dort, in der niederländischen Provinz Limburg, eine deutsche Kriegsgräberstätte. Der Friedhof ist nicht nur die größte Kriegsgräberstätte der Niederlande, sondern flächenmäßig mit 28 Hektar auch die größte deutsche Kriegsgräberstätte überhaupt. 31.704 Kriegstote, vornehmlich aus dem Zweiten Weltkrieg, fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Begraben sind hier nicht ausschließlich Deutsche, sondern auch Menschen anderer Nationalität, die mit den deutschen Besatzern zusammengearbeitet haben.

Das Programm begann mit einer Führung über den Friedhof, der bereits allein durch die Zehntausende von Kreuzen erschüttert und das Unheil von Kriegen mit Nachdruck vor Augen führt. Unser pädagogischer Begleiter Maurice suchte mit der Gruppe später auch mehrere einzelne Grabstätten auf und erzählte dort ausführlich über die Schicksale dieser Verstorbenen. Unter ihnen waren sowohl Menschen, die sich verbrecherische Taten haben zuschulden kommen lassen, als auch 14- bis 16-jährige Jugendliche, die in den letzten Tagen des Krieges noch vom NS-Staat zum Dienst in der Wehrmacht verpflichtet wurden und als Gruppe gemeinsam durch eine einzige Granate ums Leben kamen. Der jüngste Tote wurde noch nicht einmal einen Tag alt: dass er einen deutschen Vater hatte, wurde dem neugeborenen und an einer Lungenentzündung erkrankten Josef Meijer zum Verhängnis – ein Arzt lehnte deshalb ab, ihn zu behandeln. Anschaulicher kann kaum dargestellt werden, welchen Hass und welche Tragödien Kriege über Menschen bringen.

Die verbleibenden Stunden des ersten Tages widmeten wir dem Thema „Propaganda“: Im Anschluss an die Friedhofsführung wurden die Teilnehmer in einem Seminarraum in zwei Gruppen aufgeteilt. Nach einer Vorbereitungszeit mussten sie für und gegen die Todesstrafe argumentieren. Nach dem Abendessen wurde der Gruppe dann durch einen Dokumentarfilm nahegebracht, wie in Nordkorea Propaganda organisiert wird und welche Wirkung sie auf die Menschen hat. Der Film über das wohl am strengsten abgeschottete Land der Erde wirkte seltsam und verstörend.

Am nächsten Tag stand dann ein Vortrag und eine Gesprächsrunde mit einem niederländischen Zeitzeugen auf dem Programm. Lodewijk, ein inzwischen 76 Jahre alter Mann, wurde 1942 als Kind jüdischer Eltern in Amsterdam geboren. Als die deutschen Besatzungstruppen alle jüdischen Bewohner für den Transport in den sicheren Tod sammelten, wurde er als Kleinkind 1943 von seiner Mutter und den zwei- und vierjährigen Schwestern getrennt. Während die Familie in das Konzentrationslager Sobibor in Polen transportiert und dort umgebracht wurde, wurde er von niederländischen Betreuerinnen während eines Spaziergangs in eine Straßenbahn gelegt. Ein 14-jähriges Mädchen nahm ihn mit nach Hause, musste ihn aber nach einer Woche wieder in das als Sammelstelle genutzte Gebäude, aus dem er gerade gerettet worden war, zurückbringen, weil ihre Eltern das Kind nicht mehr wollten. Eine Zeit später wurde er vom Innenhof des Gebäudes über eine große Hecke Widerstandskämpfern in die Arme gegeben, die vom dort befindlichen schlecht einsehbaren Schulhof immer wieder Kleinkinder in Körben und Taschen wegtrugen und ihnen somit das Leben retteten.

Abgegeben wurde der kleine Lodewijk dann bei einem Mann, der als Zahnarzt und Bierbrauer arbeitete. Deutsche Soldaten gingen auf dem Hof ein und aus, um sich wegen Zahnschmerzen behandeln zu lassen oder um Bier für den Feierabend zu kaufen. Er selbst lebte auf dem Dachboden einer Scheune, der eigentlich zum Lagern von Obst genutzt wurde. Das Anwesen befand sich nur 700 Meter vom Gelände des KZ Herzogenbusch im Ort Vught entfernt. Lodewijk erzählte, wie er, obwohl er während der Kriegszeit noch so klein gewesen ist, beinahe sein ganzes Leben unter den damaligen Erlebnissen gelitten hat. Lange Zeit war er in Behandlung und noch heute kann er seinen Kindern nichts über ihre Großeltern erzählen. Drei unterschiedliche Daten wurden ihm später von Erwachsenen als mögliches Datum seiner Geburt erzählt, Königin Juliana bestimmte Mitte der 1950-er Jahre den 10.01.1942 zu seinem Geburtstag. In seinen Worten war weder ein Wort der Anklage noch Verbitterung gegenüber Deutschland zu spüren. Als junger Erwachsener zog Lodewijk dann auch für ein Jahrzehnt ins saarländische Homburg, weil er dort Arbeit bekam. Seit vielen Jahren wohnt er nun wieder in den Niederlanden, hat Frau und Kinder und berichtet Jugendlichen von seiner Kindheit. „Geht fair miteinander um und streitet euch nicht. Das führt zu Krieg“, gab er unserer Gruppe mit auf den Weg.

Nach dieser Gesprächsrunde besuchten wir zur Zerstreuung noch für gut zwei Stunden die Stadt Venlo und fuhren dann zurück nach Attendorn.

Die Fahrt war der Abschluss des Projekts „Erleben, erinnern, erfahren…“, welches von Dirk Dupont, dem Schulsozialarbeiter der Hanseschule und den Attendornern Tom Kleine und Hartmut Hosenfeld nach Kräften unterstützt wurde. Wir bedanken uns sehr für die hervorragende Zusammenarbeit!

Helge Staat


Links:

Kriegsgräberstätte Ysselsteyn (Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e. V.)

Deutsche Kriegsgräberstätte Ysselsteyn (Wikipedia)

Deutscher Soldatenfriedhof Ysselsteyn (Liberation Route Europe)

Jüdisch in Attendorn (eine Seite von Tom Kleine und Hartmut Hosenfeld)